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Kapitel 3

Meine Eltern


Mein Vater Bernhard Schäfers wurde am 25. Juni 1839 zu Paderborn geboren und in der Gaukirche am 27. Juni 1839 getauft. Taufpate war Zimmermeister Bernhard Schäfers, Bruder der Mutter, aus Nordborchen. Er starb im elterlichen Hause, Jesuitenmauer Nr. 29, am 8. November 1903 im Alter von 65 Jahren und 4 Monaten. Er war das jüngste (fünfte) Kind aus der Ehe meiner Großeltern. Da meine Großeltern trotz des eigenen, von ihnen an der Stadtmauer, an der Jesuitenmauer erbauten Häuschens, welches aber verschuldet war, in ziemlicher Armut und Dürfigkeit lebten, besuchte mein Vater die von dem Exjesuitenpater und späteren Pfarrer der Markkirche Anton Fechteler gegründete Freischule in der Weberstraße in Paderborn.

Paderborn hatte bei der zweiten Besetzung durch die Preußische Regierung im Jahre 1815 einige wenige Knabenschulen, so am Dom die sog. Domschule, am Busdorf die Busdorfschule und die Vorschule zum Gymnasium, die sog. Trivialschule. Durch die Bemühungen des außerordentlich sozial eingestellten Pfarrers der Markkirche Anton Fechteler (geb. 11.6.1744 in Falkenhagen) wurde für die Kinder der ärmeren, unbemittelten Bevölkerung die sog. Freischule gegründet, in der ein Schulgeld nicht erhoben wurde; daher der Name "Freischule".

Soweit ich mich aus meiner Elementarschulzeit noch zu erinnern weiß, unterrichteten drei Lehrer an drei aufsteigenden Klassen in dieser Schule. (Die damalige Freischule in der Weberstraße dient jetzt als Kindergarten, der von den Schwestern der Christlichen Liebe betreut wird.) - Pfarrer Fechteler starb am 1.11.1821 in Paderborn. - An der Freischule wirkten zur Schulzeit meines Vaters ausgezeichnete Lehrer im Geiste und Sinne des großen Volkserziehers Johann Bernhard Overberg. Die Lehrer hatten jedenfalls in dem im Jahre 1825 im ehemaligen Jesuitenkollegiumsgebäude gegründeten Lehrerseminar in Büren ihre Ausbildung genossen. Bekannt ist der Ausspruch Overbergs bei ... Anm.: unleserlicher Bereich


Familie Schäfer 1888
Oben: Anton, Joseph, Johannes
unten: Wilhelm, Mutter, Leo, Vater

Ich kann allerdings nicht sagen, wo die damaligen "Freischüler" die heilige Messe besuchten, da bis vor wenigen Jahren in der Jesuitenkirche die Zeit ...... Anm.: unleserlicher Bereich)... Universität verbundene Gymnasium. Als unter Fürstbischof Friedrich Wilhelm von Westphalen (der gleichzeitig Fürstbischof von Hildesheim war) im Jahre 1784 die angeblich baufällige Markkirche auf dem jetzigen Marienplatz, früher Kettenplatz, abgebrochen wurde, wurde der Pfarr-Gottesdienst in die Universitätskirche verlegt, die somit bis heute drei Zwecken dient:


Die alte Markkirche auf dem jetzigen Marienplatz war die eigentliche Stadtkirche, im Gegensatz zum Dom, der Kirche der Diözese, und der Gaukirche, welch letztere für die Umgegend der Stadt Paderborn als Kirche bestimmt war. Auf der Markkirche als der eigentlichen Stadtkirche war die vom Magistrat angeordnete und unterhaltene Feuerwache, welche ausschauen mußte, ob irgendwo in der Stadt Feuer ausgebrochen war, und dann Feuer läuten mußte.

Nach Abbruch der Markkirche wurde die Feuerwache in den Domturm verlegt. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war hier die Feuerwache, und jede Stunde der Nacht wurde von den Wächtern nach den vier Himmelsrichtungen geblasen, eine außerordentlich ansprechende und schöne Sitte aus der guten alten Zeit! - Da die Markkirche Bürgerschaftskirche auch für die Zünfte und Gilden war und die freiheitsliebende Bürgerschaft oftmals größere Unabhängigkeit vom Landesherrn, dem Fürstbischof, erstrebte, ist es wohl erklärlich, daß in der Zeit der sog. Reformation gerade in dieser Kirche lutherischer Gottesdienst stattfand unter abgefallenen Minoriten und besonders unter den protestantischen Pfarrern Martin Hoitband, Georg Holthausen und Hermann Tünneken. Fürstbischof Theodor von Fürstenberg (1585-1618) führte Paderborn und das Paderborner Land zum katholischen Glauben zurück.

Die Schüler der Freischule besuchten die in der Universitäts-Markkirche seit den Zeiten der alten Jesuitenpatres üblichen Andachten, so die Adventsandachten und die zehn Xaverianischen Freitage. Ob mein Vater als Freischüler von der Orgel die Xaverianische Litanei mit hat vorsingen müssen, entzieht sich meiner Kenntnis; ich nehme es aber an, da er bis in sein Alter eine gute Stimme hatte und gern sang.

An der geistigen Bildung meines Vaters gemessen, muß der Unterricht an der Freischule gut gewesen sein. Ich habe auch als Theologe seine Kenntnisse in der Glaubenslehre und in der Biblischen Geschichte bewundert. (In der guten alten Zeit war jeden Tag die erste Stunde Katechismus oder Biblische Geschichte!)

Mein Vater schrieb eine gute, flüssige und stets gleichbleibende Handschrift, orthographisch richtig, wie er es in der Schule gelernt hatte, und er war gewandt im Kopfrechnen. Die Freischule hat also ihm drei für das Leben wertvolle Kenntnissse und Fertigkeiten mitgegeben: Religion, gute Handschrift und Rechnen. Da die Schule nicht alles vermitteln kann, so ist es ihre Aufgabe, wenigstens Interesse für weitere geistige Bildung zu wecken, und das hat die Freischule meinem guten Vater mitgegeben.

In der arbeitsfreien Zeit, besonders am Sonntage, las er gern und andauernd in der Heiligenlegende, der Biblischen Geschichte und in Geschichtsbüchern, ferner war er ständiger treuer Leser des Sonntagsblattes "Leo", und wie schön wußte er uns Kindern in einer dem kindlichen Verständnis angepaßten Weise Geschichten zu erzählen.

Sein Lieblingsplatz war in unserer Wohnküche - rechts am Hauseingange - unter der Nische, wo eine Mutter Gottes aus Gips stand, unserem "Herrgottswinkel"; da saß er in der arbeitsfreien Zeit mit einem guten Buche in der Hand, lesend und das Gelesene überdenkend; so steht er andauernd vor meinem geistigen Auge.

Mein Vater wußte auch noch von der Revolution des Jahres 1848 zu erzählen. An der Spitze der damaligen Demokraten stand der Gerichtsreferendar Franz Löhr, dessen elterliches Haus in Schildern zwischen der Kreissparkasse und Drechsler Heidenkamp liegt. Vater wußte von der Verhaftung und Befreiung des Franz Löhr zu erzählen, ferner wie damals, um den revolutionären Geist zu dämpfen, Ulanen mit gezücktem Degen durch die Straßen geritten seien.

Die Bürger waren zu verschiedenen Arbeiten für die Stadt, zu den sog. Scharwerken, verpflichtet. - Die Scharwerke erstreckten sich auf Besserung an Wegen und Knicken, an Gräben und städtischen Wasserläufen usw., aber auch auf Wachdienste, besonders zur Nachtzeit; eine städtische Nachtpolizei wurde so gespart. Da die Bürger, von der Tagesareit ermüdet, dem Aufgebot durch den Stadtpolizisten Kipper nur sehr ungern folgten und sich zu drücken suchten, wurde von den Vätern die heranwachsende Jugend mit ihrer Stellvertretung als Nachtwächter beauftragt zur großen Freude der Jungen; auch ein Bildchen aus der guten alten Zeit!

Die erste Heilige Kommunion wurde bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im Alter von 14 Jahren empfangen, so daß Schulentlassung und Erstkommunionfeier zusammenfielen. Eine handwerkliche Lehre hat mein Vater nicht durchgemacht; es war selbstverständlich, daß er seinen Eltern nach der Schulentlassung verdienen half; wo und wie dieses gewesen ist, davon hat Vater mir nichts erzählt bzw. ist davon in meinem Gedächtnis nichts haften geblieben.

Für das wirtschaftliche Leben der alten Paderstadt, die damals gegen 8-9000 Einwohner zählte, und welche bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts eine ausgesprochene Mittelstadt mit kleinhandwerklicher und bäuerlicher Bevölkerung gewesen ist, gewann die Eisenbahn einen immer größeren Einfluß. Gegen 1840 begannen die Arbeiten für die Köln-Mindener-Thüringer Verbindungsbahn (zuerst Privatbahn). Zur Eröffnung der Bahnstrecke Altenbeken-Warburg kam König Friedrich Wilhelm IV. persönlich nach Neuenheerse und Willebadessen.

Meinem Großvater gelang es, seinen heranwachsenden Sohn Bernard in Beziehung zur Eisenbahn zu bringen. War es die Fürsprache des angesehenen Arbeitgebers unseres Großvaters, des Bäckers und Brauers Hoppe in der Grube? War es die Rücksicht der Eisenbahnverwaltung auf den Soldaten der Freiheitskriege Friedrich Schäfers? Wer kann das heute noch sagen!

Mein Vater kam etwa im Alter von 18-20 Jahren bei der Eisenbahn als Bremser an. Damals war auf den Zügen nur die Handbremse. Vater hat oft davon erzählt, wie er mit den Güterzügen als Bremser bei eisiger Winterkälte gefahren sei, und daß er alle Last gehabt habe, um in den kalten, zugigen Bremserhäuschen keine verfrorenen Glieder zu bekommen. Außer dem Dienst als Bremser wurden die jüngeren Arbeiter als Depeschenboten benutzt; da es damals noch wenig telegraphische Überlandverbindungen gab, mußten von den größeren Stationen die Drahtnachrichten von Boten besorgt werden. Vater erzählte des öfteren von diesen Botengängen zu kalter, eisiger Winterszeit.

Da Vater als zuverlässiger Arbeiter bekannt und geschätzt wurde, gelang es ihm, in die Schmiedewerkstatt des Eisenbahn-Hauptbahnhofes zu kommen. Wann dieses geschehen ist, kann ich nicht angeben; ich nehme aber an, daß dieses gegen 1860 gewesen ist. Bei der am 4. November 1863 in der Gaukirche vollzogenen Trauung meiner seligen Eltern wird der Stand des Vaters als "Eisenbahnschmied" angegeben. Damals war auch in staatlichen Eisenbahnbetrieben bzw. Eisenbahnwerkstätten noch die Handarbeit vorherrschend. Da mein Vater ein starker, muskulös gebauter Mann von mittlerer Statur war, wurde er in der Eisenbahnschmiede Zuschläger, d.h. er mußte in mindestens zehnstündiger Arbeitszeit den Vorhammer schwingen, eine sehr schwere, schwere Arbeit!

Nach dem Tode der Tochter Elisabeth (1854) und der Mutter Marianne (1855) standen Großvater Friedrich und sein Sohn Bernard ohne weibliche Führung des Haushaltes da. Der Großvater folgte der Großmutter im Tode nach sechs Jahren; er starb am 25.2.1861. Mein guter Vater stand jetzt allein da. Das kleine elterliche Haus, wenn auch verschuldet, und 1 ¾ Morgen Heideland am Schinkendamm waren sein Eigentum; außerdem war seine bescheidene wirtschaftliche Stellung als Eisenbahnarbeiter gesichert, so daß er an die Gründung eines eigenen Herdes denken konnte. Wie Vater und Mutter sich kennengelernt haben, ob der Großvater Friedrich die zukünftige Schwiegertochter noch kennengelernt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Mutter selig diente vor ihrer Verheiratung bei Landwirt Rempe bei den Kapuzinern (später Landwirt Auffenberg, jetzt Vetter und Engels).

Die Trauung in der Gaukirche vollzog am 4.11.1863 der alte Propst Schumacher, der schon die Eltern des Bräutigams am 5.11.1826 getraut hatte. Als Trauzeugen werden aufgeführt: Johann Glahn, Conrad Voß und Joh. Wächter, Nachbarn und zum Teil Arbeitskollegen meines sel. Vaters, die ich zum Teil noch gekannt habe. Conrad Voß war später Maurermeister und bewohnte in meiner Jugend das elterliche Haus hinter den Jesuiten.

Von der Familie meiner Mutter scheint an der Hochzeit niemand teilgenommen zu haben; wenigstens ist kein Trauzeuge aus der Familie von Rüden aufgezeichnet. Die weite Entfernung des Geburtsortes Blankenrode von der Paderstadt (5-6 Stunden), die schlechte Verbindung, wo es noch keine Autos gab, und die einfachen, ärmlichen Verhältnisse damaliger Zeit bilden die Erklärung.

Als verheirateter Hausbesitzer wurde Vater sel. alsbald zur Zahlung des Bürgerrechtsgeldes im Betrage von 10 Talern aufgefordert, und bereits fünf Tage später, am 16.11.1864, erfolgte prompt die Zahlung an die Stadtkasse.

Der Ehebund meiner Eltern war aufgebaut auf dem Fundament tiefster Religiosität und Frömmigkeit. Das Tagewerk wurde mit Gebet angefangen und geschlossen. Beim Ankleiden höre ich noch meinen Vater Gebete zum lieben Gott und auch zur heiligen Jungfrau Maria, zum Schutzengel usw. sprechen. Das Gebet vor und nach dem Essen, beim Engel des Herrn-Läuten war etwas Selbstverständliches, das gemeinschaftliche Familiengebet am Abend konnte wegen der vielen Feldarbeiten und Besorgungen des Vaters nicht so regelmäßig gehalten werden.

In den Wintermonaten besuchte Vater regelmäßig jeden Morgen die heilige Messe um 6 Uhr in der Jesuitenkirche, ging dann nach Hause zum Kaffeetrinken und mußte sich beeilen, um 6.55 Uhr beim Eingang zur Eisenbahnwerkstätte zu sein. Nachdem Vater Kaffee getrunken und die Kinder zur Schule bzw. Schulmesse geschickt waren, ging Mutter fast regelmäßig zur Jesuitenkirche, um der heiligen Messe um 7½ Uhr beizuwohnen; bei besonderen Veranlassungen wurden auch andere Kirchen besucht. - Der Empfang der heiligen Sakramente war damals noch nicht so häufig wie jetzt.

Mein Vater ging in meinen jüngeren Jahren etwa alle 6-8 Wochen zur heiligen Beichte und Kommunion. Ein solcher Kommuniontag des Vaters war für uns Kinder etwas festliches. Mutter ging öfters zu den heiligen Sakramenten und wohnte gern möglichst allen Andachten bei. Mutter trat später in den Dritten Orden des Hl. Franziskus ein und bewog auch Vater und mich als stud. theol. zum Eintritt. - Daß Vater sel. in der Heiligenlegende, Biblischen Geschichte und im Sonntagsblatt gerne las, habe ich im Vorstehenden schon erwähnt, auch eine Äußerung des frommen Sinnes meines Vaters.

Gern sang der Vater im Hause bei der Arbeit ein Kirchenlied oder summte es vor sich hin. Wenn für Sonntag die Mutter etwas Rindfleich für Suppe oder Braten gekauft hatte, trennte sie auch wohl geeignetes Fleisch ab zur Herstellung kleiner und kleinster Portionen "Gehacktes". Vater sel. hatte dann die Aufgabe des Hackens, und fast regelmäßig sang er dabei das Herz-Jesu-Lied: "Dem Herze Jesu sing", und zwar im Dreiviertel-Takt. Nach schöner Voreltern Sitte schnitt der Vater stets das neue Brot an, machte aber zuvor mit dem Messer das Zeichen des heiligen Kreuzes. Unsere Vorfahren waren von der Notwendigkeit des göttlichen Beistandes bei der Ernährung durchdrungen. Das Brot war ihnen etwas Heiliges!

Meiner Eltern Religiosität zeigte sich besonders im Leben. Wie oft habe ich von Vater gehört: "Was hilft es mir, ein Christ zu sein, wenn ich nicht christlich lebe." Schimpfen, Fluchen, Lügen gab es im elterlichen Hause überhaupt nicht. Der eheliche Friede, besonders vor uns Kindern, wurde ängstlich bewahrt. In späteren Jahren habe ich meinen Vater nur einmal bei einer Familiendifferenz aufgeregt gesehen; bei der etwas nervös gewordenen Mutter kamen Aufregungen usw. schon öfters vor und verfehlten leider bei uns herangewachsenen Jungens vielfach ihre Wirkung.

Ein einfaches, arbeits- und opferreiches Leben haben unsere Eltern aus Liebe zu den Kindern geführt, und diese Opfer und Arbeiten sind ihnen durch den Glauben erleichtert worden!

Von dem Arbeitsleben der Eltern einige Aufzeichnungen: Vater hatte jeden Tag zehn Stunden den schweren Vorhammer in der Schmiede zu schwingen und hätte mit dieser Arbeitsleistung vollauf sein Genüge gehabt. Weit gefehlt! Um die Ernährung der vielköpfigen Familie bei dem kleinen Lohn als Schmied sicherzustellen, wurde nebenberuflich eine kleine Landwirtschaft betrieben. In dem kleinen Stall am elterlichen Hause hatten wir zwei Ziegen und gewöhnlich auch zwei Schweine. Die Wartung der Tiere lag Mutter ob, während Vater durch Feldanbau für Tierfutter zu sorgen hatte. Wir sind bei Ziegenmilch groß geworden. Für uns Kinder war Schlachten einer der Hauptfesttage im Jahre! Mit den geschlachteten Schweinen mußten wir aber das Jahr hindurch auskommen. Nur an den Sonntagen wurde 1-2 Pfund Rindfleisch gekauft zum Suppekochen, das Suppenfleisch wurde dann als unser Sonntagsbraten hergestellt. Sonst wurde beim Metzger kein Fleisch gekauft. Daß wir Kinder dem Schlachtefest zujubelten, ist etwas durchaus Selbstverständliches

Zum elterlichen Hause gehörte 1¾ Morgen Land in der Stadtheide. Diese Heide wurde, obwohl vom elterlichen Hause ca. ¾ Stunden entfernt, mit Kartoffeln, Roggen usw. bestellt. Beim Pflanzen und Ausmachen nahm Vater sich den einen oder anderen Tag von der Bahn frei. Wir Kinder mußten mit pflanzen, hacken und ernten helfen. - Da das Heideland für zwischenzeitliche Bestellung und Bearbeitung zu weit entfernt lag, pachtete Vater später näher gelegenes Land, so zuerst bei Romskapelle und dann am Turnplatz von Daltrups Plan, wo wir zuletzt in der Regel bis zu zwei Morgen Pachtland in Bearbeitung hatten.

Im Frühjahr bei der Bestellung, im Sommer beim Hacken und im Herbst bei der Ernte ging Vater gegen 5 Uhr früh zum Lande, arbeitete dort, bis das Signal der Bahn ertönte, trank auf dem Lande rasch Kaffee und ging dann vom Lande zur Eisenbahn. Mittags ging er von der Werkstatt sofort zum Lande, aß dort aus dem "Henkelmann", arbeitete, bis er um 13½ Uhr zur Eisenbahn eilen mußte. Bei Schluß der Berufsarbeit auf der Eisenbahn um 18½ Uhr ging Vater sofort wieder zum Lande, um hier nach flüchtig eingenommener Stärkung bis zur Dunkelheit zu arbeiten. - Wir Kinder mußten, soweit wir dazu fähig waren, auf dem Felde wacker mitarbeiten. Ich selbst habe noch als Theologe im 6. Semester, unmittelbar vor meinem Eintritt in das Priesterseminar, im Frühjahr 1891 beim Miststreuen frühmorgens geholfen, ehe Vater zur Arbeit und ich ins Kolleg ging. Unser damaliges Pachtland lag in der westlichen Richtung von der Kilianstraße.

Außer den Arbeiten auf dem Lande hatte Vater sel. in der Freizeit im Hause Arbeiten der verschiedensten Art, so Tapezieren, Anstreichen, Holzzerkleinern, Kohlenheraufholen usw. Da die Schar der Kinder immer größer wurde und viele Sohlen und Absätze aufgebraucht wurden, machte sich Vater auch ans "Schuhmachern"; er verschaffte sich einen sog. "Pinnfuß", Sohlleder, Stifte und hat für Eltern und Kinder gesohlt und Absätze gepinnt, jedenfalls für den häuslichen Betrieb eine merkliche Ersparnis. Auch das Haarschneiden bei uns Kindern besorgte Vater mit der Schere; Haarschneidemaschinen gab es damals noch nicht. Um das Geld für das eigene Haarschneiden zu ersparen, begab er sich zum Lokomotivführer Wallmeyer in der Rosenstraße (jetzt Geschäftshaus Fuchs und Klaus), Vater des jetzigen Pfarrers W. in Lippstadt, St. Joseph; Wallmeyer schnitt Schäfers' Vater die Haare und dann umgekehrt Schäfers Wallmeyer. Daß Vater sich selbst rasierte - Gilette gab es damals noch nicht -, war selbstverständlich. "Bete und arbeite" war der Grundsatz meines Vaters, aber ebensosehr auch der Grundsatz meiner Mutter. Unermüdlich zu arbeiten und zu sparen, war sie unablässig bemüht.

Wenn auch die meisten meiner Geschwister im Kindesalter gestorben sind, so blieb doch für fünf kräftige Jungens im heranwachsenden Alter und nach der Schulentlassung viel Arbeit übrig. Mutter wusch jeden Montagvormittag alle Wäsche selbst, sie hat nur in Krankheitstagen eine Waschfrau genommen, und das bis nahe vor ihrem Tode. Als ich Seminarprokurator im Jahre 1898 geworden war, mochte ich die schwere Wascharbeit der Mutter nicht mehr ansehen; ich bot ihr an, die Waschfrau zu bezahlen, darauf die Antwort der Mutter: Lot man syn; et kann mi doch keene recht maken.

An den Montag-Mittagen habe ich als Gymnasiast meistens den Waschkorb der Mutter zur Waschpader (unter dem Abdinghof) getragen, wo Mutter die Wäsche noch einmal durchspülte und mit einem hölzernen Klopfer abklopfte. In meinen jüngeren Jahren habe ich einmal den Klopfer, der mich in seiner Gestalt an das untere Ende eines Ruders erinnerte, als Ruder benutzt; als durch meine Unvorsichtigkeit infolge stärkeren Fließens des Paderarmes der Klopfer mir aus den Händen glitt und wegschwamm, waren Schelte mit einigen Ohrfeigen Folgen dieses Mißgeschicks.

Neben Wascharbeit besorgte Mutter sel. Bügeln, Nähen, Flicken, Stopfen, Stricken und die ganze Küche nebst Hausputz, und das alles ohne Dienstmädchen oder Aushilfe. Wie oft hörte ich Mutter, wenn die Arbeit recht viel wurde, sagen: "Hätte der liebe Gott mir doch ein Mädchen gelassen, damit ich Hilfe hätte; aber Gott hat es anders bestimmt; sein Wille geschehe!"

Wie ich schon mitteilte, oblag der Mutter auch das Füttern des Viehes, während Vater das Streuen und Reinigen der Ställe besorgte. Ebenso ließ es sich Mutter angelegen sein, auf dem Felde nach Kräften und Zeit mitzuarbeiten, so besonders im Jäten und Ernten der Kartoffeln und des Gemüses.

Unter der elterlichen Leitung haben wir Kinder eine glückliche Jugend verlebt. Wohl kam es vor, daß wir im heranwachsenden Alter über die Stränge schlugen, dann wurde durch Vater und Mutter Abhilfe geschaffen; auch in dieser Beziehung hielten die Eltern zusammen. Nahrungssorgen kannten wir nicht; es gab ein kräftiges, deftiges Mittagessen, dessen Reste abends aufgewärmt wurden; belegtes Butterbrot zum Frühstück gab es nur in der Schlachtezeit. Wir wurden zur körperlichen Arbeit angehalten; aber es wurde uns auch die freie Zeit zum Spielen gegeben.

Einer besonderen Beschäftigung in der Ferienzeit erinnere ich mich gern, und das ist Holzholen. Um Anmachholz zu sparen, gingen wir heranwachsenden Jungen in die südlich und östlich von Paderborn gelegenen Wälder: Kahlenberg, Breiteholz, Rengelen, Obödienz und Harterholz, welche teils dem Forstfiskus gehörten, teils im Privatbesitz waren. Holzsammeln war zwar verboten, aber wir und die Eltern huldigten der altgermanischen Anschauung des Allgemeinbesitzes des Waldes.

Entweder vereinigten wir Jungens uns, so daß einer den zweirädrigen elterlichen Karren stellte und etwa 2-3 ihm behilflich waren. Der Karrenbesitzer konnte seinen Wagen bis an die Wagenrungen voll Holz laden, seine Gehilfen halfen mit ziehen und hatten das Recht, ein Bund Holz auf den Wagen zu legen. Ein anderes Mal zogen wir ohne Wagen los und brachten das Bund Holz auf dem Nacken nach Paderborn. Bei einigermassen passablen Wetter wurde in den Herbstferien jeden Tag Holz geholt. Mutter gab uns trocken Brot und Speck mit, welches in rotem Taschentuch unter dem Wagen an der Achse festgebunden wurde; etwas Nachkost gaben die an den öffentlichen Wegen angepflanzten Zwetschenbäume.

Von Paderborn bis zum Walde ist es ein Weg von 1½ - 2 Stunden, derselbe Rückweg, dazu das Klettern im Walde mit Holzzusammenlesen und -zusammentragen, das kunstgerechte Laden und Verschnüren des Holzes, dann den beladenen Wagen zurückziehen oder das Bund auf den Schultern vom Walde bis Paderborn zurücktragen, das war ein Sport, der uns stark, sehnig und ausdauernd machte. Um nicht zu weitschweifig zu werden, will ich verschiedene aufregende Vorkommnisse mit Förstern und Eigentümern usw. nicht weitererzählen.

Gar oft denke ich noch an oben genannte Wälder, die mir als Jugendlichem viel gegeben haben, und zwar nicht nur das dürre Raff- und Leseholz, sondern auch Naturbeobachtung und Liebe zum deutschen Walde!

Die Eltern waren von Haus aus zur Sparsamkeit erzogen. Von der Not nach den Freiheitskriegen weiß heute kein Mensch etwas mehr; die tägliche Lebenshaltung des deutschen Volkes hat sich bis zur Industriealisierung Deutschlands fortgesetzt. Deshalb war bei meinen Eltern das Bestreben, zu sparen, wo es eben geht, und zwar zu sparen im Interesse der Kinder. Gast- und Vergnügungsstätten wurden nicht besucht; mein sel. Vater hat kein Wirtshaus besucht! Zu Hause rauchte er gern lange Pfeife und las dabei; er nahm auch gern eine Prise und zuweilen auch, besonders bei der Arbeit, ein Priemchen. Für Mutter, wie für die einfachen Frauen der damaligen Zeit, gab es keinen Besuch in Cafés oder Kaffeekränzchen usw.

Unsere Eltern, wie so viele gläubige Eltern der damaligen und auch der Jetztzeit, sind stille Helden der Pflichterfüllung gegen Gott, die Familie und die Mitwelt geworden. Dieses stille Heldentum zeigte sich in Opfer und Selbstüberwindung beim Vater bei der schweren Berufsarbeit, bei der zusätzlichen ständigen Feld- und Hausarbeit, bei der einfachen, selbstverständlichen Pflichterfüllung ohne Murren und Klagen und Stöhnen! Dazu ein heiteres Gemüt, das sich in freundlich lächelnder Miene, im Singen eines Liedleins oder einer Erzählung usw. äußert. Dieses stille Heldentum erst bei der Mutter! 11 Kinder gebären, dazu zweimal Zwillingsgeburten, die Kinder stillen, warten, hegen und pflegen bei Tag und Nacht, und das ohne Hilfskraft, welch eine Unsumme von Opfern! (Mein jüngster Bruder Leo ist unter uns das einzigste "Flaschenkind".)

Nun noch eine kurze Charakteristik meiner Eltern. Mein frommer Vater war der Mann der Arbeit und Pflichterfüllung, gegen Mutter war er nachgebend, wodurch Streit aus unserem Familienkreis herausblieb. Mutter bei all ihren Vorzügen war bestimmend in der Familie; mit den Jahren bei sich einstellenden Krankheiten und Schwachheiten klagte Mutter mehr als Vater; sie spannte ihre religiösen Anforderungen auch für uns Kinder etwas zu hoch, was natürlich zu einigen Explosionen führte. So sehr ich meine Mutter als Heldin des Opfers verehre, so muß ich doch sagen, daß wir Jungen - Bruder Joseph vielleicht ausgenommen - zur Mutter nicht das richtige Vertrauensverhältnis gewannen, und daß wir uns innerlich nicht so nahe kamen, wie es zwischen Mutter und Kind sein soll. - Ich erinnere mich nur einmal, daß meine Mutter zu Hause ein weltliches Liedchen sang, ich mochte damals 5-6 Jahre alt sein; es war das Lied:

Im elterlichen kleinen Hause war die Wohngelegenheit für die eigene Familie nur sehr beschränkt und erstreckte sich in der Hauptsache auf das Erdgeschoß. Im ersten Obergeschoß wohnte links von Flur und Treppenhaus Frau Witwe Gerber mit ihrer Tochter Maria, einer Büglerin. In den zwei Zimmern rechts des Flures wohnte Witwe Meyer mit ihrem Sohne Anton, der später Theologie studierte und als Pfarrer von Wewer (Kreis Paderborn) am 15.8.1923 gestorben ist. Frau Witwe Meyer liegt in Breckerfeld, wo Anton Meyer vor seiner Pfarrtätigkeit in Wewer Pfarrer war, begraben.

Da wir Kinder heranwuchsen und das Erdgeschoß keinen genügenden Platz mehr bot, wurde Frau Witwe Meyer gekündigt, und wir Jungens kamen nach oben zum Schlafen. - Frau Witwe Gerber, welche in Süddeutschland verheiratet gewesen war, aber dann wieder nach ihrer Heimat in Westfalen gezogen war, ist im elterlichen Hause gestorben. Ihre Tochter Maria war später Haushälterin bei einem Geistlichen in Borgentreich. Wegen der engen Verbindung mit Familie Gerber wurde Lokomotivführer Leonhard Gerber, Sohn der Frau Witwe Gerber, Pate zu meinem jüngsten Bruder Leo.

Die tägliche Umgangssprache meiner Eltern untereinander mit Frau Meyer und Witwe Gerber sowie mit den meisten Nachbarn, insbesondere der alten Frau Steinmetz, war Plattdeutsch; mit uns Kindern redeten jedoch alle Erwachsenen nur hochdeutsch, so daß die Jugend wohl das Plattdeutsch verstand, aber nicht sprechen konnte. Leider ist auf unseren Dörfern dieselbe Entwicklung zu beobachten; aus den nichtigsten Gründen spricht man zur Jugend hochdeutsch, und das Plattdeutsch wird zu einer toten Sprache werden!

Nun noch einige Bemerkungen über unsere Nachbarn und deren Verkehr mit unserer Familie. Unser nächster Nachbar war Familie Heinrich Steinmetz. Der gegenseitige Verkehr war nett und schön. Heinrich Steinmetz sen., geboren in Rheda, war von Profession Schuhmacher. Da er die sitzende Lebensweise nicht gut vertragen konnte, bewarb er sich mit Erfolg um einen Posten beim Amtsgericht als Steuerexekutor und hatte einen sehr weiten Bestellbezirk: bis hinter Lippspringe, dann die Dörfer Schwaney, Altenbeken, Buke usw. Er hatte ein sehr weiches Herz und hat so manchen bedrängten Steuerzahler heimlich geholfen. Steinmetz sen. war ein großer Freund der Musik, er spielte Flöte, Fagott, Tenorhorn und Geige und wirkte bei der damaligen Domkapelle und im Musikvereinsorchester längere Zeit mit. Vater Steinmetz war mein Lehrer in Flöte und Fagott. Unser guter alter Nachbar ist am 6.9.1900 hochbetagt gestorben.

Während Steinmetz sen. als "gebildeter Mann" nie Plattdeutsch sprach, sprach seine Frau mit meinen Eltern und den Nachbarn hauptsächlich Plattdeutsch. Von ihren Kindern gingen Anna und Peter nach Nordamerika; Anna ist gestorben, Peter lebt in Newark, NJ. Die Kinder dieser rein deutschen Familie sprechen kein oder nur sehr gebrochen Deutsch; sie sind eben Amerikaner geworden. Der jüngste Sohn der Eheleute Steinmetz, Hermann, dem ich als Obertertianer Privatstunden zur erfolgreichen Prüfung auf die Quinta gegeben habe, wurde Buchhändler, hatte in Elberfeld eine gute katholische Buchhandlung und ist am 14.1.1935 unvermutet am Schlage gestorben. Die treue Lisebeth, bei uns Tante Lissa genannt, blieb mit Rücksicht auf ihre pflegebedürftigen Eltern unvermählt, hat nach besten Kräften für die Geschwister gesorgt und ist für die Familie meines Bruders Wilhelm eine Familientante im besten Sinne des Wortes geworden.

Unser zweitnächster Nachbar nach Osten war Seilermeister Blaeschke, ein geborener Schlesier. Die stille Frau B. stammte m.W. aus Niederntudorf. Meister B. übte bei gutem, regenfreiem Wetter sein Handwerk auf der Promenade, westlich vom Bahnübergang, aus, wo sein großes Rad stand, welches von seinen Söhnen oder von uns gedreht wurde, während der Meister das Spinnen besorgte. Ein näherer Verkehr mit Familie Blaeschke bestand nicht, jedoch mit der Familie des Eisenbahners Koch, der bei Blaeschke zur Miete wohnte.

Auf der anderen Seite der Jesuitenmauer zur Rosenstraße ist das jetzt der Familie Krekermann gehörende Haus, erbaut von dem Kupferschmied Köppelmann, der beim Aufkommen der Photographie zu dieser Kunst überging und an der Liboristraße ein photographisches Atelier einrichtete. Als am 23.2.1861 mein Großvater Friedrich im väterlichen Hause zum Sterben kam, versammelten sich nach guter alter Sitte die Nachbarn und Nachbarinnen, um gemeinschaftlich, am Bette des Sterbenden kniend, die Sterbegebete zu verrichten. Als man von dem sterbenden Großvater kein Lebenszeichen vernahm, erhob sich Frau Köppelmann, die Großmutter der jetzigen Geschwister Köppelmann an der Leostraße, beugte sich über das Sterbebett und sagte: "Schäfers Vatter is im Himmel", worauf der Sterbende laut sagte: "Nei, hei is no do." Allerdings hat der Protest dem Großvater nichts geholfen; seine Lebensuhr war abgelaufen.

In meiner Jugend besaß ein Eisenbahnarbeiter Konze das Köppelmannsche Haus, wollte mit Eile reich werden und richtete einen Kolonialwarenladen ein, den er bald jedoch schließen und das Haus verkaufen mußte. Mit dem nachfolgenden Hausbesitzer Krekermann unterhielten unsere Eltern gute nachbarliche Beziehungen, desgl. auch mit Overkotts, die uns schräg gegenüber wohnten. Mit dem auf Overkott folgenden Nachbarn Rody (jetzt Klempnermeister Föhrer) hatten wir weniger Beziehungen, wenn auch Rody sen. Taufpate bei meinem verstorbenen Bruder Bernard gewesen ist.

Es ist selbstverständlich, daß die nächsten Nachbarn und insbesondere auch diejenigen, die beim Schlachten sich erkenntlich gezeigt hatten, von den Eltern ein Geschenk, bestehend in einem Teller Wurstebrei und 1 bis 2 Würsten, durch uns Jungens überbracht erhielten. Man kann sich denken, daß derartige Aufträge von uns sehr gern ausgeführt wurden, da dann doch auch für uns etwas abfiel.

Von uns Kindern aus der Ehe meiner Eltern und von unsern Lebensschicksalen soll im nachfolgenden Abschnitt des genaueren die Rede sein. Deshalb möge jetzt die Erzählung der letzten Lebensjahre und Tage meiner guten Eltern folgen:

Mittlerweile war es im elterlichen Hause an der Jesuitenmauer still und stiller geworden, nachdem die Kinder herangewachsen waren und das Elternhaus zum größten Teil verlassen hatten. Nach einem harten, arbeitsreichen Leben, wie es meine guten Eltern aus Liebe zu den Kindern geführt hatten, trat bei beiden allmählich eine Erschlaffung und Abnahme der Körperkräfte ein. Der ausgedehnte landwirtschaftliche Nebenbetrieb mit Viehhaltung wurde eingeschränkt und zuletzt abgeschafft. - Am 28. November 1899 erlitt Vater bei einem dienstlichen Gange in der Eisenbahnhauptwerkstätte Paderborn einen Betriebsunfall, indem er gegen einen Haufen Tragfedern fiel und sich eine rechtsseitige Muskelzerreißung zuzog, die zu seiner Pensionierung führte. Die monatliche Unfallrente betrug 62,60 Mk., zu welchem Betrage dann auf besonderen Antrag noch eine monatliche Zusatzrente von 10,15 Mk. aus der früheren Arbeiterpensionskasse, der Vater vom 23. Sept. 1865 bis zum Unfalltage angehört hatte, trat. Meine Eltern hatten somit eine monatliche Einnahme aus Versicherungen von nahezu 73 Mark bei freier Wohnung, kleineren Einnahmen aus Mieten und Sparkassenzinsen.

Eine monatliche von mir angebotene Unterstützung - ich war inzwischen Seminarprokurator in Paderborn geworden - wurde von den Eltern abgelehnt, desgl. auch ein Angebot, eine weibliche Hausangestellte und wenigstens eine Waschfrau zu bezahlen. Eine gewisse Erleichterung für die Haushaltsführung trat insofern ein, als Anna Becker in das elterliche Haus zog. Tante Annas Mutter, Theresia geb. Schäfers aus Nordborchen, Schwester meiner Großmutter Marianne, hatte sich nach Alfen verheiratet. Während meiner Studienzeit war Annatante Haushälterin beim Domkapitular Christian Stamm und hat nach Ausscheiden aus dieser Stellung die letzten Jahre im elterlichen Hause verlebt und dort im Haushalten ausgeholfen, insbesondere nach dem Tode meiner Mutter.


Grabstätte der sel. Eltern und des Prälaten Schlatter auf dem Ostfriedhof in Paderborn

Annatante blieb auch nach dem Tode meines Vaters im elterlichen Hause, wurde als Haustante von den jungen Eheleuten Bruder Wilhelm und Frau Maria mit Respekt behandelt. Wegen schwerer Erkrankung begab sie sich in das Vinzenzhospital am Busdorf. Sie starb, wie die Paderborner sagen, "auf dem Vinzenz" am 30. Januar 1919 im Alter von 82 Jahren. - Bald darauf verkaufte Bruder Leo das elterliche Haus.

Mutter sel. klagte mehr und mehr über Magenbeschwerden und Magenkrämpfe. Während meiner Kaplanszeit in Salzkotten hat Mutter mehrere Jahre 2-3 Wochen Erholung bei mir gehabt. Den Schwestern war es eine Herzensangelegenheit, Mutter gut zu pflegen. Meine Schwägerin Maria geb. Jürgens war damals noch Schulkind der oberen Mädchenklasse, auf meinen Anruf hat sie einmal der Mutter sel. die Hand gegeben; wir alle haben damals nicht geahnt, daß bei dieser Begegnung die künftige Schwiegertochter die Schwiegermutter begrüßte.

Die körperlichen Beschwerden der sel. Mutter nahmen mehr und mehr zu; der Genuß von Speisen wurde immer und immer schwieriger. Auf unser allgemeines dringendes Verlangen begab sie sich in das Vinzenzhospital zur Untersuchung, welche Magenkrebs ergab; sie war sofort mit Operation durch Dr. Mühlhaus einverstanden. Die Operation wurde am 19. Juni 1902 mit Erfolg vorgenommen; aber wegen hinzutretender Herzschwäche trat Tod ein; in den Frühstunden des 20. Juni 1902 rief der liebe Gott die gute Mutter in die ewige Seligkeit. Der Totenzettel sagt von ihr:

Die Verewigte starb nach langem, schwerem, mit großer Ergebenheit ertragenem Leiden, wohlvorbereitet durch einen frommen, echt christlichen Lebenswandel und gestärkt durch die heiligen Sakramente unserer heiligen Kirche, im 63. Jahre ihres Lebens und im 40. Jahre ihres Ehestandes."

Mit echter Ergebung in Gottes heiligen Willen nahm Vater den Tod der treuen Lebensgefährtin hin. Mit seinem Einverständnis kaufte ich von der Stadt einen Erbbegräbnisplatz für vier Grabstätten auf dem Ostfriedhof. Da es damals zweifelhaft war, ob einer meiner Brüder Wilhelm oder Leo in Paderborn eine Familie gründen würde, erschien es untunlich, eine größere Grabstätte zu kaufen. Der Erbbegräbnisplatz mit Kreuz, mit den Grabsteinen, Umfassung, geliefert von Bildhauer Brechmann, und Eisengitter von Schlossermeister Peter Eickel kostete ca. 700 Mark. Auf diesem Begräbnisplatz ruht zu den Füßen meiner sel. Mutter mein Freund, Generalsekretär des Bonifatiusvereins Prälat Friedrich Schlatter, geboren 18.8.1878 in Grafenhausen (Baden). 1901 in Freiburg zum Priester geweiht, war er nach der Priestrweihe 11 Jahre in seiner Heimat als Seelsorger tätig, zuletzt als Stadtpfarrer von Philippsburg. Im Jahre 1912 übernahm er die Redaktion des "Leo" und kam so nach Paderborn, das seine zweite Heimat wurde.

Er war der erste Generalsekretär des Bonifatiusvereins beim Generalvorstande, dann Divisionspfarrer im Weltkriege, ging 1920 mit Generalsekretär Dr. Weinand nach den Vereinigten Staaten, wo zur Linderung deutscher Kindernot Unermeßliches geschaffen wurde. Schlatter wurde Gründer des Bonifatiusbüros in New York. Bei meiner zweiten Amerikafahrt (1925) war ich sein Gast. Am 3. Juni 1927 starb er, ein Opfer seines Berufes, im Alter von erst 49 Jahren. Neben Fritz Schlatter und zu den Füßen meines sel. Vaters ist meine Ruhestätte vorgesehen; die Instandhaltung unserer Erbbegräbnisstätte hat der Bonifatiusverein übernommen.

Mein Vater sollte meine Mutter nur um ein Jahr und vier Monate überleben. Wie bei so vielen älteren Männern stellten sich auch bei ihm Blasenbeschwerden ein. Dieses Übel auf chirurgischem Wege zu beheben, kannte man damals noch nicht. Im Herbste 1902 besuchte Vater auf meine Veranlassung und Kosten für sechs Wochen Bad Wildungen und wohnte im dortigen Liboriushause. Vater bekam hierfür einen Überzieher, es ist der erste und letzte Überzieher, den Vater getragen hat. Die gute, alte, einfache Zeit! Die Wildunger Kur brachte nur eine vorübergehende Besserung. Das Leiden, Selbstvergiftung des Blutes durch Rückstau des Urins in die Nieren, nahm seinen Fortgang, und die Kräfte nahmen zusehends ab.

Am 7. November 1903, einem Sonntage, hatte ich als Diözesanvertreter des Volksvereines Vorträge in einigen Landgemeinden des Kreises Höxter zugesagt, hatte aber wegen des äußerst bedenklich gewordenen Zustandes meines Vaters noch am Sonntagmorgen durch die Freundlichkeit des Sekretärs Brüggemann Vertretung erhalten. So konnte ich bei dem schwer leidenden und dem Tode zueilenden Vater bleiben und ihm die letzten Liebesdienste erweisen. Abends um 10 Uhr bat er noch um eine Pfeife, die ich zurechtmachte, anzündete und dem im Bett Liegenden reichte. Er rauchte einige Minuten und sagte dann "Stell se weg; et is de letzte Pipe."

Des sterbenden Vaters Worte über seine schon lange vor ihm (am 25. Dezember 1854) verstorbene Schwester Maria Elisabeth habe ich schon oben erwähnt. Am 8. November 1903, morgens gegen 2½ Uhr, ging der gute Vater unter Gebet und Segen seines priesterlichen Sohnes in die Ewigkeit ein. Der Totenzettel von Vater hat dieselbe Form mit ungefähr dem gleichen Text wie bei Mutter. R.I.P.


Familie Schäfer 1903
oben: Wilhelm und Leo
unten: Johannes, Vater und Joseph

Auf meine Veranlassung hatte Vater am 22. Sept. 1903 vor dem Notar Justizrat Marfording ein Testament errichtet, in dem er seine Söhne Johannes, Wilhelm und Leo zu gleichen Teilen zu Erben einsetzte, jedoch bestimmte, daß ich als der Älteste das entscheidende Wort sprechen solle, dem jeder sich zu fügen habe. - Die Erbverhältnisse mit Bruder Joseph, im Klosterleben Bruder Baltasar, waren vor dessen Ewiger Profeß schon im Jahre 1900 geordnet. Onkel Joseph hat durch Testament vom 1. Mai 1900 mich zum Erben seiner Ansprüche eingesetzt, gleichzeitig mir bestimmte Verpflichtungen zur Persolvierung einer größeren Anzahl heiliger Messen für die Eltern und den in Amerika verstorbenen Bruder Anton und Zahlung für gute Zwecke auferlegt; im Einvernehmen mit Vater sind damals aus dem elterlichen Vermögen 300 Mark an das Franziskanerkloster gezahlt worden.

Durch das väterliche Testament waren wir drei Brüder Erben zu gleichen Rechten in Bezug auf Haus, Landbesitz in der Stadtheide, das Inventar und das beim Tode des Vaters sich vorfindende Geld geworden. Ohne weitere Schwierigkeiten haben wir uns rasch geeinigt. Ich selbst verzichtete auf jeden Anteil, Bruder Leo übernahm Haus und Landbesitz, welches beide am 15. Juni 1906 auf ihn, den damaligen Eisenbahnschlosser Leonard Schäfers in Osterfeld, grundbuchlich überschrieben wurden. Da Wilhelm zum Teil auf Kosten des elterlichen Vermögens studiert hatte, verzichtete er auf Beteiligung bei Haus und Land, erhielt jedoch das bare Geld, etwa 3000 Mark, welches er zur Gründung eines eigenen Geschäftes in Paderborn benötigte. Nach dem Tode der Annatante teilten die beiden Familien Wilhelm und Leo Schäfers sich das Inventar.

Bruder Leo hat durch diese Erbteilung den größten Teil des elterlichen und großelterlichen Vermögens erhalten und so einen gewissen Ausgleich gegenüber seinen studierten Brüdern Johannes und Wilhelm bekommen. Über das elterliche Haus an der Jesuitenmauer und das Grundstück in der Stadtheide am Schinkendamm ist im Abschnitt über die Großeltern das Weitere bereits mitgeteilt.

Von den Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits und deren Vorfahren existieren keinerlei Bilder. Von den Eltern würden wir vielleicht auch kein Bild haben, denn wer dachte von den einfachen Leuten damals daran, sich photographieren zu lassen? Aber aus Anlaß der Auswanderung meines ältesten Bruders Anton nach Nordamerika im Frühjahr 1888 wurde ein Familienbild vom Photographen Wilhelm Köppelmann an der Leostraße aufgenommen, das erste Mal, daß unsere guten Eltern sich photographieren ließen.

Bei Besuch meines Bruders Joseph aus Rom beim kranken Vater in der Heimat im Jahre 1903 ist ein weiteres Familienbild, allerdings ohne die inzwischen verstorbene Mutter, aufgenommen. Der Vater inmitten seiner vier Söhne zeigt stark leidende Züge.

Mein verstorbener Bruder Wilhelm hat als Vizefeldwebel der Reserve vom sel. Vater im Jahre 1902 zwei nette Aufnahmen (auf seinem Lieblingsplatze unter der Mutter-Gottes-Nische) lesend, das andere ihn behaglich an der langen Pfeife rauchend. Nach letzterem Bilde hat der Paderborner Maler Hunstiger ein schönes Pastellgemälde geschaffen, dessen Abdruck als Titelbild dieser Geschichte beigefügt ist. Möge dieses Bild stets einen Ehrenplatz in der Familie Schäfers einnehmen und alle Nachkommen an den tieffrommen, kerndeutschen Eisenbahnschmied Bernard Schäfers erinnern!



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